Vermehret euch nicht!
Von Arno Raffeiner
Extreme Alternativen sind der Lebensinhalt der Housemusikerin Chris
Korda. Auch auf ihrem neuen Album propagiert sie ein einfaches Rezept
für die Rettung des Planeten: Der Mensch muss weg.
Chris Korda hält nichts von der üblichen Weltrettungsfolklore. Von ein bisschen Flugscham, dem Versprechen, seinen CO2-Fussabdruck
zu verkleinern, oder was sonst gerade trendy ist. Die Massnahmen, die
Korda seit mittlerweile fast dreissig Jahren gegen Überbevölkerung,
Ressourcenverschwendung und Klimakatastrophe einfordert, sind etwas
weniger kuschelig: Suizid, Abtreibung, Kannibalismus und Sodomie. Das
sind die vier Grundpfeiler von Chris Kordas Kunst und Lebensphilosophie.
Seit Anfang der neunziger Jahre produziert Korda elektronische
Tanzmusik. House und Techno nutzte sie immer schon als Vehikel für ihre
radikale Gesellschaftskritik – neben ihrer eigenen Religion. 1992
gründete Korda die Church of Euthanasia, eine in den USA offiziell
registrierte Religionsgemeinschaft. Deren Hauptanliegen und
zugleich einziges Gebot: Vermehret euch nicht! Die Church ist
antinatalistisch, richtet sich also gegen die Vermehrung der Menschheit
als grösste Bedrohung des Planeten. Ihre Prozessionen und Aktionen sehen
die Kirchenmitglieder in der Tradition von Agitprop und Dadaismus. Es
geht darum, die Absurdität der Welt mit ebenso absurden Mitteln zu
bekämpfen.
Korda tut dies nicht nur mit ihrer Religionsgemeinschaft und durch
ihre Musik, sondern im Grunde mit ihrer gesamten Existenz. Vor über drei
Jahrzehnten schon war sie Pionierin auf mehreren
gesellschaftspolitischen Feldern, die heute mehr denn je relevant sind:
LGBTIQ-Bewegung, Veganismus, Umweltschutz. Auch im World Wide Web mit
seinem techno-utopischen Potenzial war Korda eine der Early Adopters.
Alternative Modelle sind ihr Lebensinhalt.
Gnadenlos, aber mit Humor
Geboren wurde Chris Korda 1962 in New York. Biologisch ist sie ein
Mann, aber sie bevorzugt es, mit weiblichen Pronomen adressiert zu
werden, als Anerkennung ihrer fluiden Geschlechtsidentität. Als Teenager
hat sie die Discoära noch miterlebt, die ihren Ursprung in der schwulen
Subkultur hatte. Mit ihrem Auftreten kommuniziert sie in erster Linie,
dass binäre Zuschreibungen für sie nicht passen. Wenn sie sich irgendwo
zugehörig fühlt, dann der Gender-Bending-Bewegung und einem eindeutigen
Bekenntnis zum Weder-noch.
Soeben veröffentlichte Korda eine Handvoll neuer Musikstücke mit
lauter hübsch gereimten Zeilen. «The clock’s running out and the
world’s in pain / And making more babies is fucking insane», heisst
es einmal – da die Welt vor die Hunde gehe, sei es doch Wahnsinn,
noch mehr Kinder in diese zu setzen. Das ist die Kernthese von
«Apologize to the Future», einer Sammlung von Protestsongs im
Housegewand. Im Mittelpunkt steht eine entkörperlichte Maschinenstimme,
die ihre Botschaften meist im Chor vorträgt – gnadenlos, aber nicht
ohne Humor. Der Begleitsound dazu ist luftig, transparent, beschwingt.
Ja, so könnte sie klingen, die Stimme zukünftiger Generationen.
Die Songs von «Apologize to the Future» sind einmal mehr Kordas
Lebensthema gewidmet. Sie selbst hat sich an den Antinatalismus gehalten
und versteht das einzige Gebot ihrer Church of Euthanasia durchaus auch
als Provokation. Mit ihrem Dogma gegen Reproduktion schiesst sie
bewusst über das Ziel hinaus, um Denkprozesse in Gang zu setzen –
im Kontext von konkretem Protest, etwa mit drastischen Kunstaktionen
gegen AbtreibungsgegnerInnen, genauso wie auf dem Dancefloor. Mit dem
eigenen Verzicht auf Fortpflanzung untermauert sie letztlich ein
gesamtgesellschaftliches Ziel: die Erhaltung des Habitats der
menschlichen Spezies. Widersprüche nimmt sie dabei in Kauf. So
proklamiert Kordas berühmteste Parole Selbstmord als
Überlebensstrategie. Den Slogan «Save the planet, kill yourself!» machte
sie 1993 zum Titel eines Technotracks.
9/11 als Kunstporno
Anfang der nuller Jahre gelang ihr schliesslich das Kunststück, zur
meistgehassten Person im Clubzirkus zu werden. Kurz nach den
Terroranschlägen vom 11. September 2001 – also nach dem Tod
von fast 3000 Menschen – veröffentlichte Korda den Videoclip
«I Like to Watch». Bilder von den brennenden Türmen des World Trade
Center und von Menschen, die in den Tod stürzen, montierte sie mit
Ausschnitten aus Pornofilmen. Auf der Tonspur liefen dazu funky Beats.
Die Twin Towers als Doppelphallus des Kapitalismus, die explodierenden
Flugzeuge als Penetrations- und Abspritzfantasien und eine Welt, die
einfach nur geil aufs Zuschauen ist – so Kordas extrem überspitzte
Botschaft. Für diese Ausübung des Grundrechts auf Kunstfreiheit hatte zu
diesem Zeitpunkt kaum jemand Verständnis.
Dann war von Korda lange Zeit nichts mehr zu hören. Sie trat nicht
auf, veröffentlichte jahrelang keine Musik, entwickelte stattdessen
Software für 3-D-Drucker. Mit dem Abstand von neunzehn Jahren
betrachtet, ist «I Like to Watch» das Paradebeispiel für den Korda’schen
Aktivismus: polemisch und zugespitzt bis jenseits der Schmerzgrenze,
ohne Rücksicht auf Pietät und Zumutbarkeit.
So viel Aufsehen wie damals wird sie mit ihrem neuen Album nicht mehr
erregen. Dabei sind ihre Anliegen nicht weniger dringlich geworden, im
Gegenteil. Sie sei mittlerweile so etwas wie der «Bob Dylan des
Klimawandels» geworden, erklärte Korda im Vorfeld ihrer neuen
Veröffentlichung. Ein Bob Dylan, der über soziale Ungleichheit,
Ausbeutung und die heraufziehende Katastrophe singt. Und eine einfache
Lösung parat hat: «Respektiert die Zukunft, pflanzt euch nicht fort!»
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